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LOGBUCH 4 Overkill. Wie man ein Urteil performt.

Wir schreiben unser letztes Logbuch, jetzt mit Interpunktion:
In den letzten vier Wochen sind drei szenische Versuche entstanden, um unseren Forschungsfragen gemeinsam mit dem Publikum auf den Grund zu gehen. In einem partizipativen Format fragen wir uns, wie kann man das Publikum bewegen, sowohl emotional als auch physisch und ihnen damit einen Gerichts-Erfahrungsraum im Theaterraum ermöglichen. Der Klärung der Fragen haben wir uns mit drei Zugängen genähert:


1. Textlich
Beim Versuch wurde der Text per Voice Over abgespielt, der Raum war dafür komplett abgedunkelt und leer. Somit mussten sich die Besucher*innen allein auf ihre Imagination verlassen. Der Versuch spielte damit, dass die Menschen in ihrer Vorstellung einen Raum errichten, durch kleine textliche Impulse, die nach und nach eingestreut und komplexer wurden. Hier ein Ausschnitt: “Stell dir einmal ein paar Quader vor, fünf an der Zahl: Ein ganz großer, ein ganz kleiner und drei mittelgroße. Wie überdimensionale Bausteine stapeln sie sich am Rand deines Vorstellungsraums. Kannst du die Quader sehen? Nimm einen von ihnen, den größten, und stell ihn an die Stirnseite des Raums. Seine Position ist zentral, von allen anderen gut einsehbar. Von diesem Riesen scheint eine besondere Schwere, eine extra Portion Stärke auszugehen. (Pause) Als nächstes zieh den kleinsten Quader, den Zwerg, aus dem Bausteinestapel hervor. Ein Würfel, circa so breit wie lang: Sein Platz ist gegenüber dem Großen, er gibt ihm Kontra. Siehst du, wie die beiden Klötze den Raum bestimmen, ihm eine grundlegende Struktur geben? (Pause) Drei Quader sind noch übrig. Sie sind von gleicher Größe. Schieb sie an die Seiten des Raums. Schließ mit ihnen den Kreis, den der große und der kleine Quader eröffnet haben: Sie stützen auf der einen Seite die Stellung des Riesen, auf der anderen die des Zwergs. (Pause) Gemeinsam stehen die Quader in einem großen Sechseck, dessen Mitte freigeblieben ist. (lange Pause) Der Raum ist durch Wände begrenzt, in ihnen sind mehrere Türen: Setz sie dahin, wo sie für dich passen. (Pause) Türen wie Wände sind bedeckt von einem Material, dass sich auch an den Ecken und Enden des Raumes ergießt, lass es Holz sein, dunkles oder helles. (Pause) Nur die Wand hinter dem großen Quader ist mit Glas besetzt, und durch das Glas fällt Licht in den Raum. (Pause) Das Sonnenlicht flutet den Boden und alles darauf. Von wo in diesem Raum kommt die vertraute Wärme der Sonne? Du spürst sie doch, ich seh’s dir an. Kitzelt sie vielleicht deine Füße oder deinen Rücken? Richte dich neu aus, dreh dich zum alles erfassenden Licht. (Pause) Achtung, ein kleiner Test: Auf mein Zeichen machst du einen Schritt auf die Sonne zu: Jetzt. (kurze Pause) Und jetzt einen Schritt zurück. Findet ihr einen gemeinsamen Rhythmus? (kurze Pause) Jetzt zwei zur Sonne, einen nach links. Vorsicht! Tritt niemandem auf die Füße. (kurze Pause) Gut. Ihr seid zusammen in Bewegung gekommen. Lass jetzt den Raum wieder zur Ruhe kommen.“ Beim Making Off wollten wir dabei wissen, ob solche Impulse tatsächlich eine heterogene Masse, wie es ein Testpublikum ist, bewegen können. Unsere Antwort lautet nach und für diesen Versuch: Ja!

2. Choreografisch
Bei diesem Versuch haben wir auf unsere Bewegungsbeobachtungen der Gerichtsbesuche zurückgegriffen und sie in einen Theaterraum übersetzt, in dem das Publikum ebenfalls Teil der Bühne ist. Dabei ging es uns nicht darum, den tatsächlichen Gerichtsraum nachzuahmen, sondern die Bewegungen in eine Choreografie zu übersetzten. Diesen Versuch unterteilten wir in vier Kapitel.
1. Versuch einer Raumwahrnehmung des Gerichtssaals. Wir sahen eine Person, die einen Kreuzschritt macht und dabei die rechte Hand an ihre Hüfte führt. Wir sahen eine Protokollantin, die, damit sie zwischen zwei Tischen durchlaufen konnte,
sich ihre Robe schützend an den Körper drückte.

2. Versuch einer akustischen Choreografie. Wir sahen eine Person, die nach vorne in sich zusammen fiel und hörbar ausatmete. Wir sahen eine*n Zeug*in, die*der auf die Fragen der Richter*innen ins Stocken geriet. Wir sahen eine Person, die ihrem Oberkörper nach rechts kippte und dabei zischte. Wir sahen eine*n Justizvollzugsbeamt*in, die ermahnend in Richtung Publikum zischte. Wir sahen eine Person, die eine vom Kopf ausgehende Welle ausführte und dabei brummte. Wir sahen eine*n Richter*in, die zustimmend nickte.

3. Versuch Beiläufiges zu choreografieren. Arme verschränken. Beat. Finger zeigt hoch. Beat. Finger zeigt runter. Beat. Arme nach vorne ausstrecken und sie zurückführen. Beat. Arme nach vorne ausstrecken und sie zurückführen.
Beat. u.s.w.

4. Versuch Bewegungen zu schreiben. Wir richteten unseren Fokus auf die Zuschauer*innen und ließen sie agieren. Wir testeten unser Bewegungsnotationssystem an ihnen und dadurch spielte das Publikum mit uns. Diese vier Versuche waren verknüpft mit einer Choreographie der Klänge. Samples aus dem Gerichtssaal selbst fügten sich zu Strukturen und sonischen Räumen zusammen, morphten diese und zerfielen, um sich erneut zusammenzufinden. In diesen sonischen Räumen vollzogen analoge Synthesizer in gegenseitiger Kreuzmodulation live die verworrenen Interaktionen, Machtgefälle und Beeinflussungen zwischen den Akteur*innen des Gerichts nach und erschufen mittels geteilter Steuerströme, die zwischen ihnen hin und her gereicht wurden neue Beziehungen. Beim Making Off reagierte das Publikum am stärksten auf den vierten Versuch, was sich an ihrem starken Redebedarf dazu äußerte.

3. Szenografie 2.0
Wir zeigten einen Zwischenstand über unsere Ideen, wie man die verschiedenen Ebenen des Gerichtssaals in einem Theaterraum reproduzieren kann, ohne sie nachzuahmen. Dabei verwendeten wir Boden und Wand füllende Videoprojektionen, um die architektonische Ebene und die mobile Ebene erfahrbar zu machen. Damit wir zusätzlich auch markante Details des Raumes noch flexibler in den Raum bringen können, nutzen wir einen mobilen Minibeamer, der von der Robe bis zur tickenden Wanduhr den Raum komplexer gestaltete. Dadurch konnten wir mit unterschiedlichen Dimensionen spielen. Bei einem gamifizierten Aufbau, der dennoch versucht kein Spiel zu sein, wird dem Publikum ermöglicht, in den Ablauf des Gerichts mit einzusteigen, das jedoch ohne Zwang. Interaktives Theater für Geister. Beim Making Off testeten wir mit dem Publikum aus, inwiefern auf die spielerischen Aufforderungen und Impulse reagiert wurde und welche technischen Anforderungen für einen reibungslosen Ablauf notwendig wären.