flausen.plus

HM und TP sind in Oldenburg, AB in Stuttgart, und AKK auf den
Färöern. Wir befinden uns also nicht alle an einem Ort wie geplant,
sondern müssen Distanzen überbrücken mit Hilfe des Internets und des
Postweges. Zusätzlich kommt erschwerend hinzu, dass wir noch nie zuvor
als Gruppe zusammengearbeitet haben und dass wir vier sehr
unterschiedliche berufliche Hintergründe haben (Figuren- und
Objekttheater, Musik, Biologie). Deshalb dreht sich in der ersten Woche
auch viel darum, eine gemeinsame Arbeitsweise zu finden, uns aufeinander
und in das Projekt einzustimmen, und technische Herausforderungen zu
meistern, die die Arbeit auf Distanz mit sich bringt: In welcher Ecke
des Bühnenraumes ist die Internetverbindung am besten? Welche Plattform
wählen wir zum Sammeln und Teilen von Photos, Texten, Ergebnissen? Am
Ende der ersten Woche kristallisiert sich eine Routine heraus. Wir
starten mit einem Onlinemeeting gemeinsam in den Arbeitstag (AB isst
Müsli, AKK trinkt Kaffee, TP kommt ein paar Minuten zu spät und HM sitzt
vor weißer Wand). Wir tauschen Gedanken aus und besprechen den
Tagesplan. Wir legen eine Runde automatisches Schreiben (nein,
chaotisches Schreiben) ein, jeder für sich aber alle zusammen, in der
wir einige Minuten lang zu Papier bringen, was zum Thema des Tages
ungeordnet aus unserem Innersten hervorquillt. Am Nachmittag machen wir
eine Stunde Feldenkrais-Übungen um uns in differenzierter
Körperwahrnehmung zu trainieren. Die restliche Zeit forschen wir mal
jeder für sich, mal alle zusammen, je nachdem was wir uns im Arbeitsplan
vorgenommen haben.

Thematisch dreht sich die erste Woche um Schönheit. Die Wochenfrage
lautet: Was ist Schönheit und was steckt dahinter? Den ersten Tag
starten wir – nach dem Klären von organisatorischen und technischen
Dingen – mit einem Brainstorming zum Thema Chaos. Braucht Schönheit
Chaos? Braucht Schönheit Ordnung? Und kommen von diesen Fragen aus zu
den Bildern (zum Beispiel „Cycle“) von M.C. Escher, der uns ja zu dieser
Residenz inspiriert hat. Bei vielen seiner Bilder versucht der
Betrachter, eine Ordnung zu finden, doch sie entgleitet einem – finden
wir deshalb die Bilder so faszinierend, so schön?

Am zweiten, und teilweise auch am dritten Tag der Woche gehen wir Schönheiten sammeln. Wir sammeln in der Stadt (Oldenburg, Stuttgart, Tórshavn) und außerhalb der Stadt, bei uns zuhause und im Internet, und dokumentieren unsere gefundenen Schönheiten als Objekte und in Form von Photos, Videos, Sounddateien. Eine beachtliche und vielfältige Sammlung kommt hierbei zustande, bestehend aus: Birkenrinde, alten Schwarz-Weiß-Photos, dem Duft von frischgebackenem Brot, Seifenblasen, Backsteinmauern, dem Rauschen der Meeresbrandung, Mohnblumen, Erkern, kräftigen Farben an einem Regentag, durch ein Blätterdach dringende Sonnenstrahlen, Federn, Holzboote, organische Architektur, dem Geruch von feuchter Schaffwolle, Wolkenmuster am Himmel, der Geschmeidigkeit und Leichtigkeit von Schwemmholzstücken in der Hand… und einigem mehr.

Am dritten Tag lesen wir uns in verschiedene theoretische Aspekte zum
Thema Schönheit ein. Was bedeutet Schönheit in der Biologie, was in
verschiedenen Kulturkreisen, was in der Musik, was in der Philosophie.
Am vierten Tag stellen wir uns dann die Ergebnisse unserer Recherche
gegenseitig vor, ebenso unsere gesammelten Schönheiten. Im Arbeitsplan
war vorgesehen, unsere Schönheiten zu kategorisieren… aber wir
entscheiden uns letztendlich dagegen. Die meisten der Schönheiten fallen
in viele Kategorien zugleich. Und vielleicht lässt sich Schönheit auch
einfach nicht in Schubladen packen. Und das ist gut so.

Einige Stichworte, Zitate und schöne Sätze, chaotisch hingeworfen:

Je differenzierter wir wahrnehmen, desto schöner wird die Welt.

Das glatte und perfekte ist vorhersehbar. Schönheit braucht Überraschung.

Der Mensch findet schön, was von mittlerer Komplexität und hoher
Selbstähnlichkeit ist, Strukturen also, die nicht zu einfach und nicht
zu schwierig sind und sich im Bild wiederholen.

Kant: Schönheit ist Zweckmässigkeit ohne Zweck, interesseloses Wohlgefallen.

„Schönheit ist ein Versprechen von Glück.“ (Stendhal)

„Beauty and desire in nature can be as irrational, unpredictable, and
dynamic as our own personal experiences.” (R.O. Prum) à “Beauty
Happens” hypothesis, aesthetic coevolution by mate choice

Both symmetry and asymmetry serve as highly aesthetic sources of beauty.

Beispiele für chaotisches Schreiben (4 min, zum Thema „Chaos und Ordnung“)

HM: Am Anfang war das Chaos und dann hat Gott alles geordnet.
Gott? So was aber auch. Ich denke an Kristalle. Bunte funkelnde
glitzernde Kristalle, die sich zu einem Muster ordnen. Sie liegen kreuz
und quer wie in einer Schachtel, die man einmal gründlich
durchgeschüttelt hat und über- und untereinander. Dann nimmt Gott sie
mit Essstäbchen aus der Schachtel. Wie mit einer Pinzette. Vorsichtig.
Setzt einen Glitzerklitzerkristall zum anderen. Lila, grün, orange,
gelb, yellow, blau, submarin. Alle Farben, die Gott kennt setzt er so
zusammen zu wunderschönen Mustern. Gott? Sag mal hackts? Zu Blumen, zu
Sternen, zu Menschen und Tieren, zu Grashalmen, zu Libellen, ganz
besonders zu Libellen, diese geordneten Wesen mit ihren torkelnden
Tänzen über dem Wasser, wenn sie sich paaren oder aus dem Wasser
schlüpfen.

AKK: Chaos. Chaos. Chaos. „Am Anfang war das Chaos“, sagt die
Religion. Die Wissenschaft dagegen sagt: In einem System wird die
Entropie immer größer. Entropie = Unordnung. Das bedeutet also, das
Leben strebt zur größtmöglichen Unordnung. In der Religion kommt das
Leben von der größtmöglichen Unordnung. Warum der Gegensatz? Oder ist es
vielleicht gar kein Gegensatz sondern genau das gleiche, nur anders
ausgedrückt? Das Leben als Kreis? Vom Chaos zu Ordnung zu Chaos zu
Ordnung zu Chaos. Und immer so weiter. Ist Chaos auch eine Ordnung? Ist
Chaos mit Unordnung gleichzusetzen oder kann man Muster in ihr erkennen?
(Ihr? Wieso denke ich vom Chaos als weiblich? Aber passt irgendwie.)
Chaos. Chaos. Chaos. Und dann? Entropie. Unordnung. Informationsverlust.
Also bedeutet Ordnung gleich Information.

TP: GO! Losgehts, alles auf Anfang, niemand hat vorgearbeitet,
wir sind alle neu hier, der Stecker ist dort, wo N draufsteht, sonst
geht nix, aber wir wollen, dass was geht, wohin egal, Hauptsache go. GO
GO GO, oder doch mal ne Pause, achja, soll ja wichtig sein, naja
pe[unleserlich] passera, passera, was wird passieren, Freiheit ist die
Form. Kann Form denn frei sein? Gebundene Formen, gebundene Freiheit
oder Paradoxien in mir, in uns, in dem klugen Wort für Toleranz von
verschiedenen Dingen, die Gleichzeitig sind oder da sein sollten,…
AMBIGUITÄT, ich hab’s wiedergefunden, was zur Flause hat Escher damit zu
tun, ich kenn den gar nicht, schön war er vielleicht ja nicht, wer weiß
das schon?

Resumée der Woche (AKK)

Wir haben Schönheiten gesammelt, in der Stadt, am Strand, im
Internet, bei uns zuhause und in unserer Erinnerung. Wir haben uns in
theoretische Aspekte zu Schönheit eingelesen: Die biologische Grundlage
von Schönheit. Die kulturelle Prägung unseres Schönheitsempfinden,
ebenso die Prägung durch unser direktes familiäres Umfeld. Standards von
körperlicher Schönheit im Wandel, oft den sozialen Status
reflektierend. Oft wird Symmetrie mit Schönheit assoziiert, aber
Asymmetrie kann ebenso Schönheit erzeugen. Als Beispiel das japanische
wabi-sabi, eine „aesthetic of imperfection, incompleteness, asymmetry,
and irregularity“. Schönheit im Verfall. Das Schöne im Hässlichen. Wir
kommen zu dem Schluss, dass Schönheit einen Gegensatz braucht, einen
Bruch. Auf der anderen Seite deutet vieles darauf hin, dass der Mensch
als schön empfindet was bekannt und leicht zu verarbeiten ist, also
Strukturen von „mittlerer Komplexität und hoher Selbstähnlichkeit“.
Durchschnitt ist schön. Wir diskutieren über die Schönheit von Sprache
und Sprachen, von Stimmlagen und Harmonien. Wir diskutieren darüber,
welche Farben wir als schön empfinden. Manchmal ist unser
Schönheitsempfinden von Bedeutung aufgeladen, es ist unklar ob etwas
wirklich schön ist oder erst schön wird durch die Assoziation mit
positiven Gefühlen. Schönheit hat etwas Überwältigendes, Mächtiges, ohne
dabei pompös oder außergewöhnlich sein zu müssen, ganz im Gegenteil.
Oft liegt Schönheit im Detail, im Winzigen, im Alltäglichen. Tausendmal
gesehen und jedes Mal aufs Neue von überwältigender Schönheit.

Am Ende der Woche rauchen uns die Köpfe, und wir sind mit mehr Fragen
zurückgeblieben als wir am Anfang der Woche hatten: Ist Schönheit ein
evolutionärer Unfall? Ist Schönheit um ihrer selbst willen da? Oder
enthält sie einen Nutzen, eine Zielgerichtetheit, ein Signal? Ist
Schönheit ein Symbol von Status, Reichtum, Macht, Gesundheit? Ist
Schönheit Wahrheit? Ist Schönheit Mittelmäßigkeit? Ist Schönheit
universell? Ist Schönheit vollkommen? Kann Schönes hässlich sein und
Hässliches schön? Ist Schönheit Faszination? Ist Schönheit Ordnung? Ist
Schönheit Chaos?

Was nehmen wir aus dieser Woche in die nächste mit?

Eine gute Startenergie und einen Haufen Schönheiten, von denen wir
einige in den nächsten Tagen auf ihre Struktur untersuchen werden. Wir
wollen versuchen, vom visuellen, zweidimensionalen (Photos) wegzukommen
und sie in andere sinnliche Bereiche, in die Dreidimensionalität zu
überführen. Und da wir uns nicht alle an einem Ort befinden, müssen wir
dabei auch die Imagination zuhilfe nehmen. Gelingt es uns, die Schönheit
eines Objekts einer Person auf der anderen Seite des Internets
be-greifbar zu machen?