Woche 2

Wir starten in die zweite Woche unserer Residenz im Jahrmarkttheater mit einem Experiment: Wir beschließen als Gruppe, den 1. Mai zu zelebrieren, indem wir die für uns interessante Idee der Nutzlosigkeit als Rebellion in Form eines “Tages der Nutzlosigkeit” unter die Lupe nehmen.

In langen Vor- und Nachgesprächen, sowie der individuellen schriftlichen und Videodokumentation beschäftigen wir uns hier mit Fragen wie:

Welchen Nutzen habe ich? Für wen? Warum? Und vor allem: Wie werde ich ihn los? Durchs Nichtstun? Will ich das überhaupt? Kann ich etwas wahrlich Nutzloses tun? Wie spielt der sogenannte “Selbstzweck” da mit rein? Wie kann ich dem Aufforderungscharakter bestimmter Dinge oder Situationen widerstehen und so vielleicht sogar “nutzlos” sein, obwohl ich nicht nichts tue…

Es folgt ein vergleichsweise überproduktiver zweiter Tag der Woche, an dem wir unserem Bedürfnis folgen, unsere Themen und Recherchegegenstände zu konkretisieren, und zunächst eine große Mindmap anfertigen.

Unsere Themen und Motive  – also unter anderem der Körperschmaus, das Tentakelthema, die Fabrik, die obskuren Regeln, die Rebellion/Nutzlosigkeit – in Sinnzusammenhänge zu bringen und mit den vielen Unterthemen zu verknüpfen, die uns in der ersten Woche auch noch zugeflogen sind, verschafft uns einen guten Überblick!

Wir beschließen, in eine spielerische Auseinandersetzung mit den für uns wichtigsten/prägnantesten Themen zu gehen – mittels der von unserer Mentorin Ursina vorgeschlagenen Methode des Move/Write/Touch/Talk.

So schaffen wir im Verlauf der Woche den Übergang von der Recherche zum Output und von der theoretischen zur praktischen Herangehensweise – wir generieren dabei aber auch nochmals Unmengen an schriftlichem, Audio- und Videomaterial.

Überladen mit Themen, Ideen und Material erreichen wir gegen Ende der Woche den Punkt, an dem wir merken: Es ist Zeit für uns, ein paar inhaltliche Entscheidungen treffen. Da wir uns gleichzeitig aber noch so viel wie möglich offen halten wollen (auch was die Form betrifft, in die wir am Ende unsere Ideen gießen werden), setzen wir als richtungsgebende Maßnahme das Tool des “World Buildings” ein.

Hier ein paar Eindrücke aus der von uns auf der Grundlage unserer Ideen geschaffenen “Welt” – die so oder so ähnliche sein könnte, die evtl. der Ort ist, an dem ein zukünftiges Theaterstück von uns spielt, die womöglich aber auch nur einen Ideen-Pool darstellt, in dem schwimmen zu lernen, uns helfen wird, unsere eigentliche Methode und Form zu finden:

In einer Welt der nicht allzu entfernten Zukunft hat die Menschheit mit einer großen Krise zu tun: The Collective Social Battery is dying (die kollektive soziale Batterie ist am Sterben). Sie liegt noch bei ca. 15% und sinkt weiterhin, trotz all der harschen Maßnahmen, die ergriffen werden, um den sozialen Stress zu mindern, der Kernthema des Problems ist. Die Menschen leben alleine, da in der Familie zu leben eine enorme soziale Belastung darstellt. Ein als Symptom mit der Krise in Zusammenhang gebrachtes, neues Phänomen erschwert zusätzlich das gesellschaftliche Leben: Bestimmte Trigger lassen Menschen zu sogenannten “Werbabies” werden. Ähnlich wie Werwölfe führen diese Menschen auf den ersten Blick ein normales Leben und sind von anderen Erwachsenen kaum zu unterscheiden. Werden sie jedoch getriggert, so findet eine bizarre, innerliche Metamorphose statt, die sie – je nach Schwere des Anfalls – zunehmend infantil und babyhaft auf alles reagieren lässt. In schwierigen Fällen müssen Betroffene umgehend in dafür vorgesehene Notfallzentren gebracht werden, wo sie von professionellen Müttern umsorgt, beruhigt und gepflegt werden, bis sie den Anfall überstanden haben. Die Werbaby-Pandemie hat auch enormen Einfluss auf die Arbeitswelt! Es gibt nur noch wenige voll arbeitsfähige Vollzeit-Erwachsene. Und neben den hochangesehenen und nach strengen Vorschriften arbeitenden Müttern sind es die Angestellten einer ominösen Fabrik (für Nutzfleischherstellung?), die die Gesellschaft noch am Laufen halten. Alle anderen leiden an einem Leben der Nutzlosigkeit. Nur die “Swimmingpoolist:innen”, eine radikale Randgruppe, die sich durch das Tragen von Schwimmflügeln zu erkennen gibt, leistet Widerstand, indem sie die Nutzlosigkeit als Akt der Rebellion zum heiligen Prinzip erhebt: “Nutzlos sein und es genießen!” ist ihre Parole und ihren Namen erhielten sie aufgrund legendärer Nacht-und-Nebel-Aktionen, in denen sie bis unter die Nase mit Schwimmreifen und -tieren vermummt in lokale, stillgelegte Pools einbrachen, um dort zu planschen. Sie verstehen sich als Inspirationsquelle (lol) – so sagte ein Mitglied der Swimmingpoolist:innen cocktalschlürfend in einem Live-Fernsehinterview direkt vom Pool.

Auf der Grundlage dieser Welt haben wir zum Abschluss der Woche mit India, unserer Ansprechpartnerin vom Theater, in einer Source Tuning Session am Motiv der Fabrik, sowie an einer beispielhaften Swimmingpoolist:innen-Figur gearbeitet. Interessanterweise ergab sich in dieser Art des Assoziierens noch ein weiteres Bild: Das von einem klebrigen, triefigen, süßen Saft, der sowohl mit der Fabrik zutun hat, als auch mit der Swimming-Poolistin, die völlig süchtig danach wirkte… ein Medikament oder vielleicht ein Droge, mit der versucht wird, das Werbaby Problem und die Social Battery Crisis in den Griff zu bekommen?

Wir sind jedenfalls gespannt, wie es in der dritten Woche mit alledem weitergeht, und freuen uns sehr auf die Zeit mit unserer Mentorin Ursina, die drei Tage am Stück mit uns arbeiten und uns auch einige ihrer künstlerischen Methoden vorstellen wird.