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1. Juli 2013
Um Mitternacht besteigen wir (Konradin Kunze, Lisa Stepf und Sophia Stepf)einen IC in Berlin Richtung Stuttgart. Um 6.45 morgens treffen wir Kathrin Pfänder am Frankfurter Hauptbahnhof und steigen in einen ICE in Stuttgart um. Um 9.30 sitzen wir im Saal 6 des Oberlandesgerichts Stuttgart, wo der Fall „Die Bundesanwaltschaft gegen Dr. Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni“ in den 163. Verhandlungstag geht. An diesem Tag darf Murwanashyaka selbst einen ruandischen Zeugen befragen und tut dies ausgiebig – auf seiner Muttersprache Kinyarwanda. Der Zeuge ist ein ehemaliger FDLR-Kämpfer, der entführt und als Kadogo (Kindersoldat) eingesetzt wurde und schließlich nach Ruanda desertierte. Er war an einigen der im Prozess behandelten Kampfhandlungen direkt beteiligt und wurde dazu schon an den vorherigen Prozesstagen von den Staatsanwälten und den Richtern befragt – nun ist Murwanashyaka dran, gelegentlich unterstützt von seinen Anwälten. Der Übersetzer übersetzt Fragen und Antworten für die anderen Beteiligten im Gericht und wird dafür oftmals von der Verteidigung angegriffen, bzw. korrigiert. Schwierigkeiten in der Übersetzung und die Langsamkeit und Detailgenauigkeit, mit der dieser Prozess geführt wird, werden uns -fast schmerzlich- bewusst. Auch Bianca Schmolze, die seit zwei Jahren den Fall verfolgt und für die taz berichtet, ist immer wieder frustriert über die Strategien der Verteidigung, den Prozess in die Länge zu ziehen oder grundsätzlich in Frage zu stellen. Eine weitere Juristin ist anwesend, die von einer Menschenrechtsorganisationen bezahlt  wird, um den Prozess zu beobachten. Ansonsten ist der Zuschauerraum leer. Kaum jemand interessiert sich für diesen Präzedenzfall. Offenbar sind Gäste so außergewöhnlich, dass uns sogar der Staatsanwalt anspricht und will wissen, warum wir da sind.

Es sitzen 6 Richter, 4 Verteidiger, 2 Staatsanwälte, ein Übersetzer, der Zeuge und die zwei Angeklagten mit Bewachern und einem Justizhelfer da, unter dem Staatswappen Baden-Würtembergs. Sie alle wirken wie eine große – heute oft gelangweilte Familie – beim Abendbrot: eine gewisse Form ist vorhanden, in der sich die Beteiligten über den Tag immer mehr zu entspannen scheinen, es kommt zu Feindseligkeiten zwischen den Beteiligten und emotionalen Ausbrüchen. Es beeindruckt uns vor allem, wie gut sich alle kennen, in den Pausen miteinander plaudern. Sogar der BKA-Beamte, der die Angeklagten mit Handschellen in und aus dem Saal führt, macht ab uns zu einen Witz mit Musoni, der daraufhin vergnügt lacht.

2. Juli 2013
Wir reisen in Oldenburg an und erhalten die Einführung in Technik, Theater, Unterkunft. Am Abend sehen wir „Apocalypse Now“ von Francis Ford Coppola, der auf „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad basiert, allerdings nicht im kongolesischen, sondern im vietnamesischen Dschungel spielt. Am “Herz der Finsternis” kommt man nicht vorbei, wenn man sich mit dem Gebiet in Zentralafrika beschäftigt. Die zentrale Frage des Films – kann Gewalt, Grausamkeit, das “Grauen”überhaupt legitimiert werden (z.B. durch Staatlichkeit), oder ist Gewalt in seiner “puren” Form ohne Rechtfertigung nicht ehrlicher? – diese Frage berührt unseren Prozess nur am Rande. Doch die Grausamkeiten gegenüber der Zivilbevölkerung, die der FDLR vorgeworfen werden – werden sie nur deshalb vor Gericht verhandelt, weil sie nicht staatlich angeordnet wurden, sondern nur durch eine Miliz?

3. Juli 2013
Heute ist unser erster Arbeitstag im Theaterraum. Wir sprechen darüber, wie man den Raum aufteilen kann, ist es z.B. sinnvoll den Bühnenraum geografisch zuzuordnen, z.B. linke Seite = Deutschland und rechte Seite = Kongo? Wie stellen wir die 6000 Kilometer entfernten Orte auf der Bühne dar? Oder konzentrieren wir uns auf eine Art Nachbildung des Gerichtssaals in Stuttgart?

Ist es denkbar in einer Art Overtüre des Streichquartetts von einem Haydn oder Beethoven-Strichquartett zu kongolesischer Musik zu „morphen“ und dabei den Bühnenraum auditiv zu konnotieren? Generell überlegen wir, wie Setting und Dramaturgie sein könnten, um die Fülle von Informationen zu dem Prozess (den Informationsdschungel) sinnhaft zu durchkreuzen. Der Paragrafendschungel eines Gerichts mit seinen Ritualen ist uns ebenso fremd wie der „Dschungel“ im Kongo. Wir haben einige Überlegungen zum Zerstören und Flicken von Instrumenten. Wäre es denkbar mit billigen China-Instrumenten zu arbeiten, sie mit guten Wirbeln und Saiten so auszustatten, dass man auf ihnen spielen kann und sie im Lauf des Abends zerstört bzw. flickt? Ein weitere Idee ist es, eine Geige parallel zu einem kurzen historischen Abriss über die Region Ostkongo seit der Kolonialzeit zu zerlegen, um zu zeigen, dass die Region schon seit 150 Jahren von immenser Gewalt heimgesucht ist und dort Leopold II bzw. Stanley Morton die bestialischen Praktiken von Folter, Massaker und Vergewaltigung einführten. Wir haben uns weiterhin mit den drei Auftrags-Kompositionen von Matthias Schubert beschäftigt, sowie einen nachgesprochenen Satz von Konradin (Zitat eines Befehls Mudacumura) von 10 Sek auf 5 Minuten ausgedehnt (mit der Software Audacity). Darauf basiert eine der Komposition von Matthias, die Ausdehnung der Audioaufnahme war jedoch auch akustisch interessant, weil es sich wie Hubschrauber anhörte. Da es ja im Kern der Forschung um Kommunikation, Codifizierung und Sprachübermittlung gehen soll, haben wir überlegt, ob nicht das Publikum stark musikalisierte und verfremdete „Botschaften/Befehle“ mit entziffern muss. Wir haben weiterhin die im Prozess unzähligen Abkürzungen (BKA, FDRL, FOCA…) alle aufgeschrieben und für uns dekodiert, szenische Ideen gesammelt und gemeinsam einen Spiegelartikel, Taz-Artikel zum Prozess, einen Artikel von Musonis Verteidigerin Andrea Groß-Bölting, sowie kurze Artikel zur Geschichte des Ostkongo gelesen.

Wir werden Matthias Schubert noch um einen chorischen Gesang für 6 Stimmen bitten, der die Anklagepunkte enthält. Für morgen nehmen wir uns vor, uns weiter durch das Material zu arbeiten und mit Matthias Fragen zu den Kompositionen zu klären.

Abends gucken wir den Film: Hotel Ruanda, in dem der Hutu-Tutsi Konflikt um 1994 in Rwanda beleuchtet wird.

4. Juli 2013
Der Arbeitstag begann mit einem 90 minütigen Skype-Gespräch mit Matthias Schubert, in dem erst einmal Fragen zur Notation geklärt wurden und dann einige Optionen zu Instrumentalisierung etc. durchgespielt und besprochen wurden. Er holte sein Cello und spielte uns von Berlin aus, einige Stellen vor – es kam zur medialen Übertragung von Musik und Übersetzung (ähnlich dem Prozess). Er hat uns unter anderem gezeigt, wie man mit Chopsticks Instrumente “absticht“. Es wird langsam ersichtlich, dass wir wahrscheinlich bei Thomann Instrumente kaufen müssen, mit denen wir alle diese Sachen machen können. Wir haben Matthias gebeten, uns noch einen 6-stimmigen Choral mit der Anklageschrift zu komponieren, um zuerst einmal eine Form von 6 gleichwertigen Performer_innen auf der Bühne zu haben. Dieser sollte (im Gegensatz zu den anderen Kompositionen) tonal gehalten sein, als Entsprechung einer juristischen Utopie und Tradition von Recht, Gerechtigkeit und Ordnung. Wir einigen uns auf den ersten Satz der Anklageschrift des Generalbundesanwalts.

Die anderen drei Kompositionen von Mathias sind atonal und eher lautmalerisch experimentell (Vertonung eines Zitats, Übersetzung eines Zitats in Morse Code) und dekonstruieren gesprochene Sprache und akustische Kommunikation in die Zeichenhaftigkeit.

Anschließend haben wird die TAZ-Berichterstattung gemeinsam weiter gelesen (163 Prozess-Tage, Umfang ca. 70 Artikel) und am Flipchart versucht, uns einen Überblick zu verschaffen. Mit kurzen Ausflügen in den UN-Bericht haben wir auch diskutiert, dass wir ab jetzt die Recherche eingrenzen müssen auf das Thema Kommunikation. Wir haben einmal genau der Vorfall in „Busurungi“ durchgearbeitet, weil der einer der zentralen Vorfälle (mit einem Angriff der FDLR auf das Dorf Busurungi, bei dem viele Menschen sterben und vergewaltigt werden, sowie Hütten angezündet werden) der Anklage ist. Kann man exemplarisch an diesem Fall die Befehlskette vom obersten FOCA-Führer Mudacumura bis in die untersten Einheiten – Treffen, Funksprüche, Zettel, orale Weitergabe, SMS, Mobil- und Satellitentelefon, darstellen? Und auf die zentrale Frage des Prozess lenken: War Murwanashyaka in Deutschland oberes Ende der Befehlskette? Wir haben am Abend den Film „Sturm“ von Hans Christian-Schmid angesehen, in dem es um eine Anklägerin und eine Opferzeugin im Jugoslawien-Tribunal geht  und vor allem die emotionale Komponente eines solchen Prozesses beleuchtet wird. Es war insgesamt ein notwendiger, wenn auch etwas zäher Arbeitstag. Wir sind alle übervoll mit Informationen und wollen morgen noch den halben Tag die TAZ Recherche zu Ende bringen.

5. Juli 2013
Die erste Hälfte des Tages verbrachten wir mit Präsentation und Diskussion der Forschungsergebnisse mit Winfried Wrede und unserem Mentor Dirk Cieslak. Dann begann die weitere Aufarbeitung der TAZ Artikel und eine parallele musikalische Probe. Dirk brachte den Gedanken ein, dass die FDLR eine Art „Simulation“ eines Staates nach außen, aber eigentlich eine Terrormiliz im Dschungel ist und dass die Steuerung dieser Miliz eine analoge, “billige” Form der modernen, staatlichen Kriegsführung mit Drohnen ist. Winfried Wredes wichtiger Gedanke: wenn man etwas Spannendes gefunden hat, dann sollte man in eine andere Richtung weiterforschen.

Winfried Wrede fragt, was das Interesse und der emotinale Bezugspunkt eines jeden Beteiligten zu dem Thema ist:
– Was passiert abseits des Gerichts in Pausen und vor/nach der Verhandlung mit den Beteiligten, das im Prozess unsichtbar ist?
– Die Dynamik im Gericht zwischen Langeweile, Freundlichkeit, privaten Scherzen, emotionalen Ausbrüchen.
-Brüche zwischen Form (Prozess) und Informalität der Beteiligten (die nur Murwanashyaka wahrt)
– Analyse vom der Idee des „global village“ – der gesamten Prozess zeigt deutlich, dass wir keines sind.
– Der scheinbar unüberwindbare Abstand zwischen den zwei Welten: Hier der deutsche Gerichtssaal mit deutschen Richtern, dort die unübersichtlichen Machtstrukturen und chaotischen Lebensrealitäten des Ost-Kongo. Wie es einerseits scheinbar einfach und innerhalb von Minuten möglich ist, ein Massaker in Busurungi aus Mannheim anzuordnen – und auf der anderen Seite es unendlich mühsam und langwierig ist, das in Ermittlungen und dem Prozess zu rekonstruieren, noch dazu mit den juristischen Maßstäben eines deutschen OLGs.
– Der Prozess als verdichteter Moment, der alle Ebene der kulturellen Unterschiedlichkeit und Gleichheit durchkreuzt. Von der dünnen globalen Oberschicht, die „gleich“ ist (Visa, Pässe, Zugang zu Ressourcen, Bildung, technisiert) zu allen Differenzen dazwischen (z.B. Ex FDLR Soldaten, die nicht lesen können, Kinyarwanda sprechen aus Ruanda versus Juristen in Deutschland) bis zum einfachen kollektiven „Menschsein“, eine Ebene, die bei Bedrohung des Lebens und Gewalt am Körper erreicht wird (Taten der FDLR im Kongo an der Zivilbevölkerung).

Am Nachmittag teilen wir uns zwischenzeitlch auf: Sophia und Konradin arbeiten weiter das TAZ-Material durch und suchen nach wichtigen inhaltlichen und möglicherweise für die Bühne verwendbaren Stellen. Kathrin und Lisa beschäftigen sich mit zwei Kompositionen (dem Morse-Satz und dem zerdehnten Satz), die sie anschließend präsentieren. Danach lesen wir gemeinsam, teils dialogisch – einige der wichtigen Stellen aus der TAZ-Recherche.