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Von den Augen in die Hände

Ich stehe auf dem Balkon meiner neuen Unterkunft: das Nebelhorn dröhnt, die Möwen kreischen, die Wellen des nahen Meeres branden gegen das Ufer. Flensburg begrüßt mich seit einer Woche jeden Morgen mit seiner akustischen Kulisse. All das hören meine beiden Kolleg*innen, Athina und Eyk, jedoch nicht. Sie erfahren die Atmosphäre Flensburgs auf ganz andere Weise. Denn sie sind taub. Meike und ich hingegen hören.

Hier an der Theaterwerkstatt Pilkentafel erforschen wir zu viert die Möglichkeiten der Deutschen Gebärdensprache als eigene Bühnenform, die auch Hörenden zugänglich sein soll. Vielleicht entsteht daraus eines Tages eine eigene Theatergattung, die gehörlose und hörende Menschen selbstverständlich und annähernd gleichberechtigt anspricht. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wir Hörenden sind hier erstmals in der Position, uns in einer Fremdsprache mitzuteilen, die wir nicht völlig beherrschen. Doch dank der Geduld unserer beiden tauben Kolleg*innen funktioniert die zwischenmenschliche Kommunikation schon sehr gut. Doch wie sieht es mit den Proben, mit der künstlerischen Arbeit aus? Poetisches Gebärden ist nochmals Welten davon entfernt, nur nach dem Salz zu fragen.

Um einen Ausgangspunkt zu haben, von dem aus wir vier starten, arbeiten wir mit Rainer Maria Rilkes Gedicht „Orpheus. Eurydike. Hermes.“ – kein einfacher Text, weder für Hörende noch für Gehörlose. Folglich besteht unser erster künstlerischer Arbeitstag allein in der sprachlichen und vor allem inhaltlichen Erschließung dieses Textes. Dabei geht es weniger darum, wie man Rilkes Worte vollkommen exakt in Gebärden übermitteln kann, als vielmehr darum, welches Gefühl, welche Atmosphäre und welche soziale Haltung der Text offenbart. Und dabei springt uns eine Parallele zwischen dem Verhältnis Orpheus‘ zu seiner verstorbenen Gattin und dem Verhältnis Hörender zu Gehörlosen deutlich zutage: Orpheus, der strahlende Musiker, Halbgott und Held des Mythos, sieht es als seine Pflicht, Eurydike aus der Unterwelt zu „retten“ – ungeachtet ihrer eigenen Bedürfnisse. Dem vergleichbar gibt es auch ausreichend viele Hörende, die Gehörlose aus ihrer Taubheit „retten“ wollen – ungeachtet der kulturellen Werte und Potentiale, die in der Gebärdensprache und Gehörlosenkultur liegen. Behinderung ist eben kein biologischer Zustand, als vielmehr ein sozialer Prozess – Menschen WERDEN von Menschen behindert. Und auch für Orpheus ist der Hörsinn so zentral, sodass seine Absenz ihn dazu verleitet, das einzige Gebot, das ihm auf dem Gang aus der Unterwelt gestellt wurde, zu übertreten. Spiegelt sich in der Orpheus-Sage womöglich das paternalistische und auf Ignoranz fußende Bedürfnis Hörender, vermeintlich defizitäre Menschen zu „retten“? Und somit die diskriminierende Haltung sich selbst und das Vermögen zu hören, als das Maß aller Dinge zu setzen?

Doch neben diesen soziopolitischen Fragen diskutieren wir auch ganz konkrete, ästhetische und translatorische Probleme. Wie drückt man den Begriff Gottheit aus, wenn der Text eindeutig von keinem christlichen Gott spricht, die Gebärde aber die Dreifaltigkeit in den Blick nimmt? Wie performt man ein Bild, das im lautsprachlichen Text sich absichtlich der*m Leser*in entzieht, beim Gebärden und Vorspielen aber an Konkretheit und Direktheit gewinnt? Wie können überhaupt ein- oder zweihändige Gebärden zu einer choreographischen Bewegung für mehrere Spieler*innen werden? Nach der dramaturgischen Textarbeit arbeiteten wir genau an diesen Fragen, indem jede*r von uns performte, sich dem Blick der Anderen auslieferte und Gedanken, Möglichkeiten und auch Fehlversuche teilte.

In der nun kommenden Woche werden wir den performativen Teil unserer Residenz weiter vorantreiben. Heute haben wir schon einen ersten szenischen Anfang gesetzt: das Bild Rilkes, eines Mannes, dessen Sinne sich entzweiten, auf drei Performende aufgeteilt und dabei auch die Sprecher*innenhaltung beim Gebärden begonnen zu befragen. Ich bin gespannt, wohin uns vier diese Reise in die Tiefen der antiken Unterwelt und der Deutschen Gebärdensprache noch führt. Aber ich weiß schon jetzt, ganz gleich an welches ästhetische Ziel wir gelangen: der Austausch unserer Erfahrungen über das Gebärden und (Nicht-)Hören wird uns alle bereichern.

J. Döring